Inner Garden
Florian Weiss' Woodism
Es gab Zeiten, da klang fast jede Platte des europäischen Jazz wie ein fundamentales Statement. Wie ein großer Schlüsselroman, ein Monumentalgemälde oder ein Film-Epos. Diese Zeiten sind vorbei, und man gibt sich oft viel zu schnell mit Kleinigkeiten zufrieden. Und dann kommt völlig unerwartet ein Album wie „Inner Garden“ von dem schweizerischen Posaunisten Florian Weiss und seiner Band Woodism. Schon die ersten Töne von Bassist Valentin v. Fischer, die den Opener „Hymn To The Here And Now“ einsummen, machen deutlich: hier geht es um etwas Grundsätzliches. Da wird etwas wachgerüttelt, das man seit den formativen Alben von europäischen Jazz-Pionieren wie Albert Mangelsdorff, Krzysztof Komeda oder Giorgio Gaslini nicht mehr in dieser Vehemenz gehört hat. Wenn dann sich dann die Posaune des Bandleaders wie ein Morgennebel gravitätisch über den Bass legt, Linus Amstads Altsaxofon sich hinzugesellt und Philipp Leibundguts Schlagzeug unaufdringlich von unten in die Hymne hineinwächst, wird endgültig klar, dass hier ganz große Geschichtenerzähler am Werk sind. Es ist und bleibt eine Hymne an das Hier und Jetzt, und doch werden kollektive Erinnerungen an eine Ära wach, die weit über die Lebensspanne der beteiligten Musiker und vermutlich auch der meisten Hörerinnen und Hörer hinausreichen. Dieses Zusammenspiel von bewussten Entscheidungen, unterbewussten Haltungen und vor allem vier Musikern, die genau wissen, was sie wollen, ist in dieser Form im heutigen Jazz einzigartig.
Florian Weiss und seine Kompagnons spielen eine Musik, die ebenso wenig einen theoretischen Überbau braucht wie eine intellektuelle Unterfütterung. Sie ist einfach da und wirkt, als wäre sie bereits seit tausend Jahren dagewesen und habe nur darauf gewartet, endlich wachgespielt zu werden. Jeder einzelne Ton der Band klingt wie ein Felsmassiv, für die Ewigkeit gemacht. Dass Weiss runde, komplette Alben in die Welt zu setzen vermag, denen es nichts hinzuzufügen gibt, weiß man spätestens seit dem letzten Woodism-Opus „Alternate Reality“. Schon als er mit diesem Album auf Tour ging, flossen in die Konzerte neue Stücke ein, die den nächsten Plot anbahnten. Diese Songs verschmolzen irgendwann zu einer neuen Identität, die nach weiteren Kompositionen verlangten, bis sie die Form und den Plot eines Albums annahmen. So eigenständig alle Alben von Woodism sind, fließen sie doch organisch ineinander und bilden, durch den homogenen Bandsound definiert, einen übergreifenden Erzählstrang. „Andernfalls müsste ich mir bei jedem Album erneut die Frage stellen: wo setze ich an“, rekapituliert der Posaunist. „Auf diese Weise ergibt sich das jeweils Nächste immer von selbst. Mit jedem Stück, das ich für die Band schreibe, lerne ich etwas hinzu und komme dem Kern der Sache etwas näher. Ich stelle mir bei jedem einzelnen Stück die Frage, um was es mir geht. Das ist ein Weg, auf dem man wahrscheinlich niemals ans Ziel kommt, aber allein die Gewissheit, diesem Punkt näherzukommen, ist schon sehr erfüllend. Man hat das Gefühl, sich in die richtige Richtung zu bewegen.“
Ein zentrales Moment in Weiss‘ Musik sind die Melodien. Die Gruppe gibt überwältigend schöne, oft ganz einfache Melodien zum Besten, die ohne jede Voraussetzung mitgesungen werden wollen. Es sind Lieder, deren Text sich aus den Melodien ergibt. Diese Anmutung wird nicht zuletzt dadurch unterstützt, dass die Timbres von Posaune und Saxofon in der Band sehr vokal klingen. Auch der Bass ist nicht einfach nur ein Rhythmusinstrument, sondern fügt Tenor und Alt eine souveräne Bass-Stimme hinzu. Weiss erinnert sich, dass er schon als Kind nonverbal vor sich hinsingend unentwegt neue Melodien erfunden hat. Dieser unvoreingenommene Sinn fürs kindlich Liedhafte, das den meisten Erwachsenen früher oder später abhandenkommt, ist ihm geblieben, und er baut ihn ganz zum Vorteil seiner Kompositionen ständig aus.
Bestellung unter: woodism@florianweiss.ch (20.- CHF + Versand)
Weitere charakteristische Merkmale der Musik auf „Inner Garden“ sind Wärme und Klang. Man könnte fast versucht sein, von Erdwärme zu sprechen, so natürlich kommt dieses Gefühl von organischer Wärme, die sich aus dem Klang der einzelnen Instrumente, aber auch aus dem Gesamtsound der Band ergibt, rüber. Weiss macht sich eine Maxime von Miles Davis zu eigen, der mal sagte, er habe versucht, seine Mitmusiker immer bestmöglich klingen und ihre Stärken zum Vorschein treten zu lassen. Es ist dem Posaunisten wichtig, seine Musik von allem Ballast zu befreien, um eben die individuellen Besonderheiten seiner Band zum Tragen zu bringen, die dann auf diesen ganz speziellen Sound hinauslaufen. Alle vier Musiker lassen die Musik passieren, anstatt etwas erzwingen zu wollen, sei es auch noch so originell. „Ich habe gelernt, die Musik zu umarmen und zu akzeptieren, was alle, inklusive mich selbst, mitbringen und anbieten können.“ Schöner kann man es kaum formulieren. Auch wenn die Kompositionen unzweideutig die Handschrift von Florian Weiss verraten, könnte vom Höreindruck ausgehend auch jedes andere Mitglied der Bandleader sein.
Auf diese Weise gelingt es Florian Weiss, eine seiner eigenen größten Stärken hörbar zu machen. Er hält den Aufwand so gering wie nötig, um den Effekt so groß wie möglich zu gestalten. Er öffnet alle Tore und räumt alle Hindernisse aus dem Weg, um seiner staunenden Hörerschaft Zugang zu seinem inneren Garten zu gewähren. Ein Garten ist immer ein Ort, an dem sich menschliche Sehnsüchte mit deren Erfüllung treffen. In diesem Sinne ist Florian Weiss‘ innerer Garten eine bewusst geschaffene Welt, die sich aus verschiedensten Komponenten zusammensetzt, welche alle miteinander und nur so die harmonische Einheit eines kompletten, in sich geschlossenen Universums ergeben.
Eine gute Platte kann sich im besten Fall anfühlen wie ein alter, treuer Freund. Vielleicht ist es ein Freund, den man lange nicht gesehen hat, mit dem man sich aber auch nach Jahren oder womöglich Jahrzehnten auf Anhieb wieder so wohlfühlt wie in unbeschwerten Kindheits- und Jugendtagen. Genau dieses einzigartige Gefühl von unverbrüchlicher Geborgenheit vermittelt Florian Weiss‘ Woodism auf „Inner Garden“.